Die Angst kann ich dir nicht nehmen

Sarah B. ist 26 Jahre alt und lebt seit zweieinhalb Jahren mit einer transplantierten Lunge.

Sie lebt gut damit und macht Menschen Mut, die vor der Operation stehen.

Mitte Januar besuchte Sarah B. aus Glarus die 14jährige Cécile D. in Zürich. Die beiden kannten sich nicht, doch sie könnten Schwestern sein: Beide sind klein und zierlich, und beide haben ein pausbäckiges Gesicht, das sie besonders jung aussehen lässt. Sie sassen sich an einem Tisch gegenüber, und Sarah erzählte. Lebhaft und direkt, wie es ihre Art ist, antwortete sie auf all die Fragen, die Céciles Mutter ihr stellte. Cécile selbst schwieg, hustete oft und hörte zu. Schliesslich stellte sie Sarah eine einzige Frage: Was kann ich gegen die Angst machen?Sarah
Sarah B. ist 26 Jahre alt und lebt seit zweieinhalb Jahren mit einer transplantierten Lunge. Die Transplantation im Universitätsspital Zürich am 22. Juli 1996 ist das Ereignis, das ihr Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt: «Vor der Transplantation lebte ich im Haus meiner Mutter. Ich musste immer genau überlegen, wie viele Schritte es bis zum Sauerstoff im Schlafzimmer sind, ob ich wohl noch genug Schnuuf habe bis dorthin oder zuerst zehn Minuten ausruhen soll.»

Heute wohnt sie in einem Dorf im Kanton Glarus und arbeitet als Zahnarztassistentin. In ihrer Zweizimmerwohnung spielen die beiden Katzen Minusch und Mäuse zwischen blauen Kissen, Sarahs Pulli ist blau, ihre Augen, ihr kleines Auto ist blau und sogar das Katzenhalsband. Ein eigentliches Hobby hat Sarah nicht, sie tut vieles gerne: Musik hören, mit ihren Freundinnen telefonieren, ausgehen, aber auch einfach zu Hause bleiben, fernsehen, herumkramen. «Heute ist mein Leben so normal, dass es schon selbstverständlich wird, so wie es für die meisten Leute ist. Manchmal muss ich mich selbst an der Nase nehmen und sagen – he, denk dran, was du hast.» Sarah lacht auf ihrem blauen Sofa. Sie lacht gerne.

Eine erfolgreiche Lungentransplantation gelang zum erstenmal 1983 in den Vereinigten Staaten. Mit der Entdeckung von Cyclosporin, einem Medikament, das die Abstossung des neuen Organes bekämpft, ohne die Immunabwehr des Körpers ganz zu zerstören, hatte sich die Transplantationsmedizin grundlegend verändert: Aus einem medizinischen Experiment wurde ein bald weltweit praktiziertes chirurgisches Spezialgebiet.

In den späten achtziger Jahren, als Lungentransplantationen häufiger wurden, arbeitete auch der Schweizer Chirurg Walter Weder in den Vereinigten Staaten, und zwar am Pionierzentrum für Lungentransplantation an der Washington University in St. Louis. Er holte sich hier das nötige Rüstzeug, um in der Schweiz ein Lungentransplantationsteam aufzubauen. 1992 führte er am Universitätsspital Zürich die erste Lungentransplantation in unserem Land durch.

Seither hat Walter Weder, Abteilungsleiter für Thoraxchirurgie am USZ, alle Transplantationen in Zürich durchgeführt, auch diejenige von Sarah B. Pro Jahr sind das heute etwa fünfzehn bis zwanzig Transplantationen, dazu kommen in Genf, dem zweiten Lungentransplantationszentrum der Schweiz, noch einmal rund zehn. Etwa drei Viertel der Transplantationen nehmen einen normalen bis sehr guten Verlauf, das heisst, die Transplantierten leben seit Jahren mit ihren neuen Lungen. Von den ersten zehn Patienten der Jahre 1992 und 1993 sind sieben noch am Leben. Am grössten ist die Gefahr einer schweren Abstossungsreaktion oder Infektion in den ersten Monaten nach der Operation: Überlebt ein Transplantierter das erste Jahr, sind seine Chancen, noch viele weitere Jahre zu leben, gross, denn die medikamentöse Prävention der Abstossungsreaktion verbessert sich laufend.

Eine Lungentransplantation kann bei verschiedenen schweren Lungenerkrankungen die letzte Überlebenschance darstellen. Weltweit stellen Patienten mit Lungenemphysem die grösste Gruppe der Kandidaten, darunter auch ehemalige Raucher. Walter Weder stellt aber eines sofort klar: Diese Patienten müssen sich über Jahre, noch besser über Jahrzehnte, als zuverlässige Nichtraucher ausgewiesen haben, damit sie für eine Transplantation in Frage kommen. Das Höchstalter liegt etwa bei sechzig Jahren, wichtiger als die genaue Zahl der Jahre ist das biologische Alter und der allgemeine Gesundheitszustand eines Patienten. In der Schweiz stellen jedoch Patienten, die mit Raucherproblemen nicht das geringste zu tun haben, die grösste Gruppe der Anwärter für eine Lungentransplantation: Es sind Patienten mit Cystischer Fibrose, und sie sind jung, meist unter dreissig. Die jüngsten Patienten, denen Walter Weder eine neue Lunge transplantierte, waren zwölf und vierzehn Jahre alt.

Sarah B. und Cécile haben Cystische Fibrose (kurz CF genannt, früher Mukoviszidose). CF ist eine angeborene und unheilbare Stoffwechselerkrankung. Sie ist die häufigste Erbkrankheit in Europa und Amerika und betrifft bei uns eines von zweitausend Neugeborenen; jährlich kommen in der Schweiz etwa vierzig Kinder mit CF zur Welt. Verschiedene Drüsen wie die Bauchspeicheldrüse oder die Schleimdrüsen im Atemtrakt produzieren einen zähflüssigen Schleim, der das Drüsengewebe verklebt. Dies wirkt sich einerseits auf den Verdauungsapparat aus, anderseits, und besonders verhängnisvoll, auch in der Lunge. Der zähe Schleim erschwert den Selbstreinigungsvorgang der Bronchien und bildet einen idealen Nährboden für Bakterien, was zu einer chronischen Entzündung der Atemwege führt, zu ständigem Husten und zu Sauerstoffmangel im Blut. Die Verdauungsprobleme können mit der Einnahme von Enzymen und einer erhöhten Kalorienaufnahme oft einigermassen aufgefangen werden. Ihre Lunge jedoch müssen CF-Betroffene mit mehrmals täglichem Inhalieren, mittels zeitaufwendiger Physiotherapie und spezieller Aushustetechniken vom zähen Schleim zu reinigen versuchen. Oft werden aber auch intravenöse Antibiotikakuren zur Infektionsbekämpfung nötig und damit regelmässige Spitalaufenthalte. Trotz all dieser Therapien kann die chronische Infektion zu einer zunehmenden Verhärtung des Lungengewebes und schliesslich zu seiner Zerstörung und damit zum Tod führen.
«Ich wusste nicht, wie lange Sarah noch leben würde»

Sarah «CF ist eine Krankheit, die extrem verschieden verlaufen kann», erklärt Ueli Bühlmann, Chef der Klinik für Kinder und Jugendliche am Triemlispital in Zürich und CF-Spezialist. «An Cystischer Fibrose kann man auch heute noch im Kindes- und Jugendalter sterben, und gleichzeitig gibt es Erwachsene, die mit CF ein normales Leben führen mit Beruf und Familie.» Als das Thema Lungentransplantation vor rund zehn Jahren auftauchte, war Bühlmann skeptisch. Ihm, der sich intensiv mit Sterbebegleitung von CF-Kindern und -Jugendlichen befasste, schien es damals, dass dieser schwierige Prozess nutzlos gestört werde, wenn da plötzlich eine Hoffnung am Horizont erscheine, die doch keine war. Seither haben sich die Überlebenschancen für Lungentransplantierte jedoch derart verbessert, dass die Transplantation zu einer realen Hoffnung geworden ist. Ueli Bühlmann hat seine Meinung entsprechend geändert: «Für eine bestimmte Gruppe meiner CF-Patienten, die zwar sehr krank sind, aber dank der verbesserten Therapie heute erwachsen werden, ist die Transplantation zu einer Option geworden.»

Zu dieser Gruppe gehörte Sarah B. «Als ich Sarah bei einer notfallmässigen Hospitalisation kennenlernte, wusste ich nicht, ob und wie lange sie überleben würde», erzählt Ueli Bühlmann. Das war 1990 und Sarah damals 18 Jahre alt. Ihre Kindheit war einigermassen problemlos verlaufen. Auch als sie mit zwölf Jahren mit den Antibiotikakuren in der CF-Klinik in Davos beginnen musste, die sich meist zweimal pro Jahr wiederholten, ging Sarah normal in die Sekundarschule und machte anschliessend eine Lehre als Zahnarztassistentin. Oft, eigentlich immer öfter, ging es ihr aber schlecht, und sie musste zur intravenösen Kur, nun nach Zürich. «Weil ich immer sagte, es geht schon, es geht schon, hat damals in der Lehre niemand gewusst, wie schlecht es mir wirklich ging. Die dachten, ich hätte Asthma.»
Sarah selbst wusste es sehr genau. Zu viele CF-Freunde, die sie von Davos her kannte, starben. Aber sie wollte leben, und zwar selbständig. Mit 19 zog Sarah zu Hause aus. Sie arbeitete nun halbtags in einer Praxis. Der Chef zeigte Verständnis für die Absenzen wegen des leidigen «Asthmas». Als die Abstände zwischen den Infektionen immer kürzer wurden, erwähnte Ueli Bühlmann zum erstenmal die Möglichkeit einer Lungentransplantation.

«Er gab mir eine Patienten-Broschüre. Ich las sie, schmiss sie in die Ecke und sagte, das mache ich nie! Da war nur von Risiko die Rede und von schrecklichen Nebenwirkungen. Krank war ich ja schliesslich schon.»

Die Abstände zwischen den schweren Lungenentzündungen wurden noch kürzer. Einmal, es war am Stephanstag, ging es ihr gar so schlecht, dass sie ihre Mutter ins Spital rufen liess: Sarah, inzwischen 23, wollte ihr Begräbnis besprechen. Gospelsongs sollten gesungen werden, und ihre Asche wollte sie ins Meer verstreut haben. Doch sie wurde wieder entlassen, diesmal mit einer Kiste, die Lärm machte und Sauerstoff produzierte und die nun neben ihrem Bett stand. Ihren kleinen Haushalt konnte sie nicht mehr bewältigen und arbeiten auch nur noch minimal. Sie zog zu ihrer Mutter zurück. In dieser Phase dachte sie viel nach. Und plötzlich, im Frühsommer, war es klar:
«Schlechter gehen kann es mir nicht mehr, ich kann nur noch gewinnen. Ich hatte mich ja schon lange damit abgefunden, dass ich nicht alt würde. Also warum so weiterleben?»

Es war die Entscheidung für die Transplantation. Sarah hatte, trotz schwerster Atemnot, über drei Jahre dafür gebraucht.

Die Entscheidung für eine Lungentransplantation ist für CF-Kranke deswegen so schwierig, weil eine Prognose des individuellen Krankheitsverlaufes fast unmöglich ist. Der Lungenzustand kann sich unerwartet stabilisieren oder sich, ebenso unerwartet, verschlechtern. «Im Gegensatz dazu wissen CFler natürlich sehr genau, dass trotz aller Verbesserung der Überlebenschancen bei der Transplantation immer noch zehn bis zwanzig Prozent der Transplantierten in den ersten Monaten nach der Operation sterben», erzählt Ueli Bühlmann. Diese Hochrisikosituation muss abgewogen werden gegen ein zwar schwieriges, beschwerliches, aber vielleicht auch noch länger andauerndes Leben mit CF.

«Die Persönlichkeit des Patienten kommt hier sehr stark zum Tragen», meint Bühlmann. Er hat Patienten, die genau wissen, unter welchen Umständen sie nicht mehr leben wollen, und daher die Transplantation sofort riskieren würden. Andere, wie Sarah B., brauchen lang: «Bei Sarah hatte ich lange ein Verbot, das Thema auch nur anzuschneiden, und ich hielt mich dran. Plötzlich kam sie dann, und nun sollte ich ihr sofort ein Gespräch mit dem Unispital organisieren, unbedingt sofort.»
Erschwert wird die Entscheidungsfindung durch die Tatsache, dass eine Transplantation um so mehr Chancen hat, je besser der körperliche Allgemeinzustand ist, je besser es einem Patienten geht und je weniger Lust er verspürt, ein 25prozentiges Todesrisiko einzugehen. «Wenn wir von ärztlicher Seite gar keinen Druck ausüben, riskieren wir, dass jemand sich für eine Transplantation bereits in einem zu schlechten Stadium befindet oder sogar stirbt, bevor der Entscheidungsprozess zu Ende ist.» Trotzdem hält Bühlmann den individuellen Weg zum Entscheid für richtig. Gerade der Fall Sarah B. hat ihn davon einmal mehr überzeugt: «Ich glaube, der gute Verlauf in ihrem Fall hat auch damit zu tun, dass der Entscheidungsprozess bei ihr sehr sorgfältig gelaufen ist. Natürlich hatte sie das Glück, so lange warten zu können.»

«Der Arzt gab mir eine Patientenbroschüre. Ich las sie, schmiss sie in die Ecke und sagte, das mache ich nie!» «Eltern könnten ihr Kind verlieren»

Noch schwieriger wird die Situation, wenn es um Kinder und Jugendliche geht, für die weitgehend die Eltern entscheiden müssen. Auch hier geht es inzwischen um viel mehr als eine blosse Verbesserung der momentanen Lebensqualität. Heute, mit Transplantierten, die zehn und mehr Jahre überleben, und bei einer ständigen Verbesserung der medikamentösen Verhinderung der Abstossungsreaktion, geht es um die Möglichkeit einer echten, langfristigen Genesung – wenn der körperliche Zustand die Transplantation erlaubt. Wer aber möchte das Leben seines Kindes riskieren, wenn und solange es diesem noch einigermassen gut geht? «Eltern sind sich sehr klar darüber, dass sie nicht nur ihr Kind verlieren könnten, sondern mit ihrem Entscheid zur Transplantation auch noch ein Stück Verantwortung für seinen Tod tragen müssen», erzählt Bühlmann. Für ihn ist dieser Entscheid deshalb immer nur individuell möglich: «Er lässt sich in keiner Art und Weise generalisieren. Ein – das gibt es für mich ganz einfach nicht.»

Was helfen kann bei der Entscheidungsfindung, ist das Gespräch mit einer Leidensgenossin, die die Transplantation überstanden hat. Deshalb die Begegnung in Zürich zwischen Sarah und Cécile. Lebenslang Kranke wissen viel, auch wenn sie erst 14 sind, und Cécile hat Angst, wenn sie an eine Transplantation denkt, Angst vor den Schmerzen, vor dem Sterben. «Cécile tat mir schrecklich leid», erzählt Sarah, «sie hustete, hatte Mühe mit dem Atmen, ich weiss doch so genau, wie das ist. Und nun soll sie mit 14 auch noch ja oder nein sagen zum Leben, was für mich mit 24 schon schwer genug war. Und ich hatte im schlimmsten Fall ja wenigstens schon gelebt. Cécile hat noch nichts erlebt auf dieser Welt und muss diesen Entscheid fällen.» Auf ihre Frage, was sie gegen die Angst machen könne, hatte ihr Sarah geantwortet: «Cécile, du kannst nichts dagegen machen, die Angst wird dasein, bis du in den Ops gehst. Vielleicht ist sie gar nicht so schlecht, dann entscheidest du nicht leichtfertig. Aber wenn Öis gut geht», sagte ihr Sarah, «dann hast du es geschafft und musst nie mehr darüber nachdenken.»
Sarah selbst meldete sich im Sommer 1996 zur Abklärung in Zürich an. Der in solchen Fällen übliche zweiwöchige Spitalaufenthalt folgte, bei dem alle medizinisch relevanten Daten erhoben werden und sich schliesslich entscheidet, ob ein Patient auf die Warteliste kommt oder nicht. Neben dem körperlichen Zustand sei auch der psychische wichtig, erklärt Walter Weder. «Ein Patient muss den Wunsch haben weiterzuleben. Er muss mitmachen. Das ist eine klare Voraussetzung. Ich würde nie einen Patienten überreden, im Gegenteil: Ich möchte mit ihm oder ihr vor allem auch über Schwierigkeiten reden, über Komplikationen und über den Tod. Denn wenn alles gut geht, dann sind sowieso alle zufrieden.»

An einem Donnerstag wurde Sarah aus der Abklärung entlassen, mit einem täglichen Trainingsprogramm zur Verbesserung ihrer körperlichen Fitness und mit dem Hinweis, sie werde benachrichtigt, sobald sie definitiv auf die Liste aufgenommen werde. Sie werde dann auch den berühmten Pager erhalten, den ein Transplantationskandidat Tag und Nacht bei sich tragen muss, um jederzeit in maximal zwei Stunden im Spital sein zu können. Das alles scherte Sarah wenig, zuerst musste nun gefeiert werden, wie immer, wenn sie aus dem Spital heimkam. Mit dem Fitnessprogramm würde sie dann am Montag beginnen. Am Freitag abend wurde es fünf Uhr, am Samstag sogar sieben Uhr morgens, bis sie ins Bett kam. Am Sonntag nachmittag um halb vier klingelte das Telefon, und eine Stimme sagte: «Frau B., wir haben ein Organ für Sie.» Sarah brachte kein einziges Wort hervor. «Hallo, Frau B.», tönte es durch die Leitung, «sind Sie noch da? Sie müssen packen, der Krankenwagen holt sie in einer halben Stunde ab.» Noch in der Notfallstation in Zürich befürchtete Sarah, man könnte sie wieder nach Hause schicken, weil sie ein bisschen zuviel getrunken hatte in der langen Nacht davor Aber nein, man steckte ihr die Infusionsnadel in den Arm.

Auf der Warteliste für eine Lunge waren damals 14 Menschen, Sarah war als letzte dazugekommen. Nun kam sie als erste dran, weil ein Spenderorgan in Grösse und Blutgruppe gerade zu ihr am besten passte. (Das Alter des Spenders ist weniger wichtig, obwohl jüngeren Empfängern wenn möglich auch jüngere Organe transplantiert werden.) Im Normalfall müssen Transplantationskandidaten einige Monate auf ein Organ warten, gelegentlich bis zu zwei Jahren. Sarah «wartete», ohne es überhaupt zu wissen, ganze drei Tage.

«Das grösste Problem danach ist oft der Muskelkater»
Auch Walter Weder erinnert sich gut an jenen Sonntag Nachmittag: «Es war ein wunderschöner Sommersonntag, und ich war mit meiner Familie bei Freunden im Garten eingeladen. Kaum angekommen, musste ich ans Telefon – und von da an jede Viertelstunde, bis ich dann gehen musste.» Wie seine Patienten auf der Warteliste muss auch Walter Weder immer erreichbar sein, allerdings nicht nur über einige Monate, sondern nun schon seit sieben Jahren. Heute ist immerhin mit Ralph Schmid ein Stellvertreter in Ausbildung.

Sarahs Operation dauerte acht Stunden. Die Schwierigkeit für den Chirurgen bei einer Lungentransplantation besteht darin, dass bei dieser ausserordentlich komplizierten Operation auch noch sehr schnell gearbeitet werden muss. Von der Organentnahme an gerechnet, müssen die beiden Lungen in sechs Stunden eingepflanzt sein. Die Operation beginnt deshalb lange bevor die Spenderlungen überhaupt im Operationssaal eintreffen, sind sie da, wird die erste kranke Lunge entfernt. Die beiden Lungenseiten werden einzeln transplantiert, über die jeweils verbleibende wird der Patient beatmet.

«Schon in der ersten Nacht nach der Operation merkte ich: Das ist ein ganz anderes Schnuufe», erinnert sich Sarah. «Und dann die Ruhe nachts, früher habe ich doch immer das Rasseln meiner Lunge gehört – nun piepste nur die Infusion.» Sarah musste richtiggehend atmen lernen, sie hatte das schon so lange nicht mehr getan. Auch den Sauerstoff wollte sie noch lange nicht hergeben, obwohl ihr Walter Weder versicherte, sie brauche ihn wirklich nicht mehr – sie traute der Sache nicht. Als sie zum erstenmal im Garten spazierte, konnte sie kaum glauben, dass dies ohne Stehenbleiben und Atemschöpfen ging.

Nach vier Wochen durfte Sarah nach Hause. Man empfahl ihr, wegen der Infektionsgefahr noch nicht zu schnell unter die Leute zu gehen. Aber das widerstrebte der Lebenslustigen: «Ich hab das doch nicht gemacht, um im goldenen Käfig zu sitzen.» Schon am ersten Abend ging sie mit allen Freunden ins Restaurant «zum Güggeli-Essen». Am nächsten Morgen setzte ihr Bruder sie brutal aufs Velo. «Jetzt hast du keine Ausrede mehr», scherzte er. Tatsächlich lag es dann nicht an der Lunge, dass sie nicht weit kam, sondern an ihren völlig untrainierten Muskeln.

«Es ist eindrücklich», meint Walter Weder dazu, «dass das erste Problem von CF-Patienten nach der Transplantation oft der Muskelkater ist, weil sie wegen ihres Atemproblems so schlecht trainiert sind.»
Natürlich musste Sarah dann bald wieder zurück ins Spital für aufwendige Nachkontrollen, für monatliche Bronchoskopien im ersten Jahr, zur regelmässigen Messung ihrer Lungenfunktion. Natürlich muss sie, wie alle Transplantierten, peinlich genau und lebenslang eine ganze Palette von Medikamenten einnehmen. Einmal, bei einer Abstossungsreaktion, erhielt sie hohe Dosen Cortison, was sie, die immer Unterernährte, zum erstenmal mit den Gewichtsproblemen von Normalmenschen bekannt machte – und die gefielen ihr gar nicht. Bei alledem aber sagte sie sich immer: «Das ist ja nichts, ich kann dafür atmen.»

«CF-Patienten sind unheimlich krankheitsgewohnt», erklärt Annette Böhler, Leiterin des medizinischen Teams, «Nachbehandlungen und diszipliniertes Medikamenteschlucken sind gar kein Thema, denn für sie verringert sich ja der Aufwand für ihre Krankheit enorm. Das sind Patienten, die sich vorher sieben bis acht Stunden am Tag mit ihrer Krankheit beschäftigen mussten. Für einen Gesunden, der früher vielleicht mal ein Alcacyl nahm, ist dagegen allein schon das zweimal tägliche Medikamenteschlucken ein Problem.»

Für Sarah lag das Problem tatsächlich in einem ganz anderen Bereich. Etwa ein Jahr nach der Transplantation, als feststand, dass sie wirklich zu den Fällen mit einem guten Verlauf gehörte, überfiel sie der Gedanke, dass sie nun eine Zukunft habe, und das stürzte sie in eine regelrechte Lebenskrise. CF-Kinder wie Sarah wussten früh und gut – noch vor zehn Jahren hörten sie es auch von Pflegepersonal und Ärzten -, dass sie nicht alt werden würden. Auch Sarah wusste das «schon immer», wie sie sagt. Als Jugendliche hatte sie deswegen verlässlich gelernt, sich keine Sorgen zu machen und nur im Heute zu leben, so gut, wie das eben ging. «Ich hatte gelebt mit dem Gedanken, dass du nicht alles machen kannst und nicht zu den Sternen greifen kannst. Mein Leben war abgesteckt, geregelt, ich musste keine Pläne machen. Und trotzdem hatte ich ganz intensiv gelebt.» Nun wurde plötzlich alles mögliche zum Problem: ihr Gewicht, ihr rundes Cortison-Gesicht, das leere Geschwätz auf Parties. Zum erstenmal konnte sie mit ihren Freundinnen nicht mehr reden. Zum erstenmal kam ihr der Gedanke, dass sie ihre Mutter überleben könnte, und er erwies sich als schrecklich.

Am ersten Jahrestag der Transplantation bekam sie einen Heulkrampf, als sie an ihren Spender dachte und daran, dass es nun auch für seine Eltern ein Jahr her war. Überhaupt denkt Sarah oft an ihren unbekannten Spender: «Ein Mensch hat entschieden, seine Organe weiterzugeben, und wenn er das so entschieden hat, ist es ein Geschenk, das ich annehmen kann.» Und: «Ich habe die Chance für ein zweites Leben bekommen, und ich habe sie genutzt.» Doch manchmal beschleicht Sarah der Gedanke, dass die 24 Jahre vor der Transplantation fast einfacher gewesen waren als die zwei danach: Seither musste sie anders denken lernen, musste lernen, ohne Einschränkungen zu leben, aber dafür mit der Zukunft.

Und da ist noch etwas: Sarah hatte aus ihrer Krankheit nie viel Aufhebens gemacht nach aussen, doch selbst zählte sie sich selbstverständlich zu den Kranken. Heute weiss sie nicht mehr, wohin sie eigentlich gehört:

Sie hat zwar immer noch CF, aber sie kann atmen. «Ich stehe im Zwischenraum, ich zähle mich nicht mehr zu den CFlern, aber auch nicht zu den Gesunden. Ich bin eine Spezies für mich allein.»
Der vierzehnjährigen Cécile hatte sie bei jenem Gespräch in Zürich noch etwas anderes gesagt. «Wir CFler sind Kämpfer. Wir wissen, wie es ist zu leiden, und uns geht es manchmal beschissen. Doch es kann nur besser werden.» Cécile befindet sich inzwischen in Genf in der Abklärung für eine Lungentransplantation.

Die Wartelisten werden immer länger
Lunge:

Im Jahre 1963 verpflanzte James Hardy in der amerikanischen Stadt Louisville erstmals eine Lunge, die erste erfolgreiche Transplantation gelang 1983 ebenfalls in den Vereinigten Staaten.
1998 wurden in der Schweiz 27 bilaterale (beide Lungenflügel) und 3 unilaterale (nur ein Lungenflügel) Lungentransplantationen durchgeführt. Diese Operationen können in Genf, Lausanne und Zürich gemacht werden.

Am 1. Januar 1999 warteten sieben Patienten auf eine Spenderlunge.

Typische Lungenerkrankungen, bei denen eine Transplantation angezeigt ist, sind die Erbkrankheit Cystische Fibrose (Mukoviszidose), Lungenemphyseme oder eine dauernde Verengung der Bronchien. Der Ersatz einer Lunge wird vorgenommen, wenn die Krankheit im Endstadium ist und eine medikamentöse Behandlung keine Wirkung mehr zeigt.

Herz:

Die erste Herztransplantation führte der südafrikanische Arzt Christiaan Barnard 1967 in Kapstadt durch.
In der Schweiz wurden 1998 44 Herzen verpflanzt. Die Eingriffe werden in den Transplantationszentren in Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich durchgeführt.

Am 1. Januar 1999 standen 27 Menschen auf der Warteliste für ein Herz.

Ein neues Herz bekommen Patienten, die an einer Herzerkrankung im Endstadium leiden, wenn diese weder mit Medikamenten noch mit einem anderen operativen Eingriff erfolgreich behandelt werden kann. Häufigste Ursache ist die Arteriosklerose (Arterienverkalkung) der Herzkranzgefässe.

Leber:

Die erste Leber transplantierte Thomas Starzl 1963 in Denver, der Hauptstadt des amerikanischen Bundesstaates Colorado.
1998 erhielten in der Schweiz 77 Patienten eine neue Leber. Der Eingriff wird in Bern, Genf, Lausanne und Zürich vorgenommen.

Am 1. Januar 1999 standen 38 Patienten auf der Warteliste, 27 mehr als noch vor einem Jahr.

Die Indikationen für eine Lebertransplantation sind chronische Lebererkrankungen wie Zirrhose, Lebergeschwulste, aber auch angeborene schwere Stoffwechselerkrankungen. Der grösste Anteil der Patienten leidet an alkoholbedingtem Leberversagen. Der Eingriff wird dann vorgenommen, wenn abzusehen ist, dass der Betroffene ohne Transplantation innerhalb von zwei Jahren sterben würde oder die Lebensqualität derart vermindert ist, dass das Risiko einer Transplantation gerechtfertigt scheint.

Bauchspeicheldrüse:

Die erste Bauchspeicheldrüse (Pankreas) wurde 1966 im amerikanischen Bundesstaat Minnesota transplantiert.

Am 1. Januar 1999 warteten insgesamt zwölf Patienten auf eine Gelegenheit zu einer Bauchspeicheldrüsen-Verpflanzung.

Vor allem Diabetiker des Typs I brauchen neue Bauchspeicheldrüsen. In der Bauchspeicheldrüse wird neben den Verdauungssäften auch das Hormon Insulin hergestellt, und zwar in den Langerhansschen Inselzellen. Bei Diabetikern ist diese Funktion ausgefallen. Diese Zuckerkranken leiden oft aber auch an schwerwiegenden Nierenschäden. Bauchspeicheldrüsen werden fast ausschliesslich zusammen mit einer Niere verpflanzt, in der Schweiz nur in Genf und Zürich.
1998 wurde diese Doppeltransplantation dreimal ausgeführt. Dreimal verpflanzten die Spezialisten eine Niere zusammen mit den Langerhansschen Inselzellen. Ein solcher Eingriff wird nur in Genf durchgeführt.

Niere:

Die erste Niere von einem toten Spender wurde 1933 im sowjetischen Kershow transplantiert, die erste Niere von einem Lebendspender 1952 in Paris.
1998 wurden in der Schweiz 193 Nieren verpflanzt. Dabei erhielten 68 Patienten eine Niere von einem Lebendspender. Neben Basel, Bern, Genf, Lausanne und Zürich wird dieser Eingriff auch in St. Gallen durchgeführt.

Am 1. Januar 1999 warteten 396 Patienten auf eine Niere. Ein Patient wartet sogar auf eine Dreifachtransplantation von Niere, Bauchspeicheldrüse und Leber.

Für die Nierentransplantation kommen grundsätzlich nur Patienten in Frage, die an einem endgültigen Funktionsversagen ihrer eigenen Niere leiden. Dies ist der Fall, wenn der Patient ohne Dialyse, also Blutwäsche, nicht mehr überleben kann. Rund ein Drittel der Nierenempfänger sind Diabetes-Kranke.

Weltwoche Nr. 5/99, 4.2.1999
Von Kathrin Meier-Rust (Text)
und Tom Haller (Fotos)

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