Wer helfen kann, sollte es tun

Stirbt ein Mensch, entscheiden meist die Angehörigen über eine Organspende

Die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer befürwortet die Organspende, trägt aber selber keinen Organspendeausweis auf sich. In vielen Fällen ist das Spenden von Organen erst dann ein Thema, wenn plötzlich ein Familienmitglied stirbt und die Angehörigen im Spital entscheiden müssen, ob sie die Organe ihres Partners oder Kindes für eine Transplantation freigeben wollen.

Am Nachmittag vor seinem Tod klagt Max Huber* über starkes Kopfweh und verlässt ein Familienpicknick frühzeitig. Trotz den Schmerzen bringt der sportliche und bisher gesunde Mann am Abend mit seiner Frau die Kinder ins Bett. Früh geht das Ehepaar Huber schlafen. Nach Mitternacht bringt Lena Huber* ihrem Mann eine Schmerztablette. Kurze Zeit später liegt er bewusstlos neben ihr. ( * Namen geändert. )

Plötzlich tot

Um vier Uhr morgens wacht Lena Huber wegen eines Schnarchgeräuschs ihres Mannes auf. Als sie zu ihm hinüberschaut, liegt er mit geöffneten Augen da und starrt ins Leere. Das alarmierte Ambulanzteam reanimiert Max Huber und transportiert ihn ins Zürcher Universitätsspital. Seine Frau fährt der Kinder wegen nicht mit ins Spital. Erst als die beiden am Morgen in der Spielgruppe und im Kindergarten sind, fährt sie zu ihm. Max Huber sieht aus, als würde er schlafen. Die Ärzte können den 42-jährigen Betriebsmechaniker jedoch weder mit Medikamenten noch mit Operationen retten. Er stirbt an einer Hirnblutung.

Organe von hirntoten Menschen

Gemäss der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) gilt ein Mensch als verstorben, wenn er sogenannt hirn- oder herztot ist. Beim Herztod erleidet der Mensch einen irreversiblen Herz- und Kreislaufstillstand, der die Blut- und Sauerstoffzufuhr zum Hirn unterbricht. Beim Hirntod fallen alle Hirnfunktionen – inklusive jener des Hirnstamms – vollständig und unwiderruflich aus. Dieses Hirntodkonzept dient der Transplantationsmedizin als Basis (NZZ vom 21. 11. 03). Die Mehrheit der Ärzte und der Bevölkerung teile diese Definition des Todes, sagt Reto Stocker, Leiter der Abteilung Chirurgische Intensivstation am Universitätsspital Zürich. Es gebe allerdings neben Nichtmedizinern auch Ärzte, die aus ethischen, philosophischen oder religiösen Gründen Zweifel am Konzept des Hirntods äusserten. Sie akzeptierten nur den klassischen Tod mit Leichenstarre und Totenflecken.

Da der Kreislauf nach einem Herztod nicht aufrechterhalten werden kann, muss eine allfällige Transplantation rasch erfolgen. Meist können nur jene Organe entnommen werden, die gegenüber der unterbrochenen Sauerstoffzufuhr tolerant sind, wie zum Beispiel die Niere. Bei einem Hirntod können die Ärzte den Kreislauf für eine gewisse Zeit künstlich aufrechterhalten, so dass die Organe mit Blut und Sauerstoff versorgt bleiben. Deshalb stammen Organe für Transplantationen mehrheitlich von hirntoten Menschen. Zwei verschiedene Ärzteteams stellen bei ihnen im Abstand von minimal sechs Stunden und gemäss den Richtlinien der SAMW den Hirntod fest. Reto Stocker betont, dass diese Ärzte unabhängig vom Organentnahme- und Transplantationsteam arbeiten.

Übers Organspenden sprechen

Einige Monate vor seinem Tod hatte Max Huber anlässlich einer Fernsehsendung mit seiner Frau über Organtransplantationen gesprochen. Beide beschlossen daraufhin, einen Spenderausweis auszufüllen und ihre Organe im Falle eines plötzlichen Todes einem anderen Menschen zur Verfügung zu stellen. «Wer helfen kann, sollte es tun», sagt Lena Huber, während sie zu Hause am Esstisch von ihrem Mann erzählt. Sie erachte es als wichtig, übers Organspenden zu sprechen, damit ein Entscheid nicht allein und erst beim Tod eines Angehörigen gefällt werden müsse.

Im Erstgespräch mit den Angehörigen im Spital ist das Überbringen der Todesnachricht das Zentrale. «Das sind die schwierigsten Gespräche im Berufsalltag und für die Angehörigen eine Extremsituation», sagt Reto Stocker. Es gebe Wochen, da führe er drei oder mehr solche Gespräche durch, in anderen Zeiten wochenlang keines. Er erkläre den Angehörigen jeweils zuerst, wie der Todesnachweis erfolgt sei, und warte daraufhin, bis sie sich in ihrer Trauer etwas gefasst hätten. Oft fragten sie selber, wie es nun weitergehe. Das sei für ihn der Moment, in dem er einhaken könne und auf die Organspende zu sprechen komme, führt Stocker weiter aus. Er frage sie, ob sich der Verstorbene dazu geäussert habe und ob sie selber schon übers Organspenden nachgedacht hätten. Etwa 30 bis 50 Prozent lehnten eine Organentnahme beim Verstorbenen sogleich ab, schätzt Stocker. Dann gebe es jene, die ohne Zögern Ja sagten, und solche, die Bedenkzeit wünschten.

Lena Huber stellt im Gespräch mit den Ärzten, die ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes mitteilen, selber die Frage nach der Organspende. Obwohl der Spenderausweis von Max Huber erst seit kurzem und noch ohne Unterschrift zu Hause auf dem Schreibtisch liegt, weiss sie, dass sie in seinem Sinn handelt, als sie die Organe zur Transplantation freigibt. «Das zu wissen, war wichtig für mich», sagt sie heute.

410 transplantierte Organe im letzten Jahr

Obschon im Kanton Zürich die Widerspruchslösung (s.unten) gilt, werden gemäss Stocker alle Angehörigen von potenziellen Spendern um Einverständnis angefragt. Stimmen sie einer Organentnahme zu, kontaktiert der Arzt Swisstransplant, die nationale Stiftung für Organspende und Transplantation, die schweizweit die Transplantationen koordiniert und die Verteilung der Organe kontrolliert.

Die Ärzte untersuchen den Verstorbenen; für die Transplantation müssen sie neben weiteren Kriterien die Verträglichkeit von Blutgruppe und Gewebe sowie Gewicht, Grösse und Alter berücksichtigen. Koordinatoren von Swisstransplant suchen daraufhin auf der nationalen Warteliste geeignete Organempfänger. Nie habe sie den Eindruck gehabt, die Ärzte hätten ihren Mann ungenügend betreut, weil sie nur an seinen Organen interessiert gewesen seien, sagt Lena Huber. Gemäss Swisstransplant sind im Jahr 2002 in der Schweiz von 75 Spendern insgesamt 410 Organe transplantiert worden; von 64 registrierten Herzpatienten erhielten 32 ein neues Herz, von 744 Nierenpatienten 225 eine neue Niere.

Spenden ja, aber . . .

Die meisten Schweizerinnen und Schweizer machen sich wenig oder keine Gedanken über das Spenden von Organen. «In jungen Jahren denken viele, dass bloss die anderen sterben», meint Reto Stocker. Gesunde verdrängten oft den eigenen Tod. Laut Sebastiano Martinoli (NZZ vom 27. 10. 03), Vizepräsident von Swisstransplant und Chefarzt am Ospedale Regionale di Lugano, besitzen weniger als zehn Prozent einen Organspendeausweis, obwohl rund zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung dem Organspenden gegenüber positiv eingestellt seien. Die Mehrheit befürwortet also Organtransplantationen; anderen Menschen zu helfen, ist ethisch unbestritten. Im eigenen Fall tun sich jedoch viele offenbar schwer mit einem Entscheid zugunsten der Spende, da sie vermutlich die Vorstellung befremdet, einem Unbekannten beispielsweise das eigene Herz einpflanzen zu lassen.

Neben den philosophisch-ethischen Fragen, die jeder für sich selber entscheiden muss, sehen Stocker wie auch Martinoli weitere Ursachen für die geringe Organverfügbarkeit in der Schweiz bei den Spitälern. Vor allem die kleineren verfügten oft nicht über die nötigen technischen und personellen Ressourcen. Für die Deutschschweiz, die im Vergleich zur Romandie und zum Tessin gemäss Martinoli weniger Organspender verzeichnet, sei bei Swisstransplant die Stelle eines mobilen Koordinators geplant. Dieser soll in Spitälern mit potenziellen Spendern den Kontakt zu den Angehörigen koordinieren, die nötigen Ärzte organisieren und sich um die Formalitäten kümmern.

Sichtbare Narben

Die Organentnahme beim verstorbenen Spender wird laut Stocker mit der gleichen Sorgfalt durchgeführt, wie wenn ein lebender Mensch operiert wird. Die Kosten einer Organtransplantation übernimmt gemäss Swisstransplant die Krankenkasse des Empfängers. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine transplantierte Niere nach einem Jahr noch funktionsfähig ist, liege bei rund 80 Prozent, sagt Martinoli. Eine ähnliche Erfolgsquote verzeichneten die Lebertransplantationen, jene der Herzen liege etwas tiefer. Sind die Organe entnommen, bleiben die Narben der Operation sichtbar. Die Angehörigen können nun den Verstorbenen nach ihren Wünschen bestatten.

Max Huber wird bis um sieben Uhr am nächsten Morgen operiert. Später lässt ihn seine Familie kremieren. An der Beerdigung erwähnt der Pfarrer, dass seine Organe transplantiert worden sind. Lena Hubers Familie, Freunde und Bekannte reagieren positiv. Wer vom Verstorbenen Herz, Lunge, Niere und Leber bekommen hat, weiss Lena Huber nicht.

Dankesbrief des Empfängers

Die Anonymität zwischen Spender und Empfänger eines Organs ist laut Stocker in der Schweiz gewährleistet. Die Spenderfamilie kann durch Swisstransplant erfahren, wie die Transplantation ausgegangen ist. Der Empfänger seinerseits kann sich über Swisstransplant in einem Schreiben bedanken, darf aber nicht erkennbar sein. Die Anonymität sei auch deshalb wichtig, erläutert Stocker, weil die Empfänger sonst unter Umständen das Gefühl bekommen könnten, sie stünden in der Schuld der Familie des Spenders. Lena Huber erhält Monate nach dem Tod ihres Mannes einen Brief. Die Empfängerin eines der Organe von Max Huber dankt für ein neues und wieder schmerzfreies Leben. Der Brief ist nicht unterzeichnet.

Zustimmungs- und Widerspruchslösung

Was die Transplantation von Organen angeht, obliegt die Gesetzgebung in der Schweiz den Kantonen. Die Zustimmungslösung verlangt das ausdrückliche Einverständnis des Spenders und/oder der Angehörigen. Sie gilt in den Kantonen Jura, Obwalden, Uri, Tessin. Bei der Widerspruchslösung gilt stillschweigende Zustimmung, sofern der Verstorbene zu Lebzeiten oder die nächsten Angehörigen nach seinem Tod nicht widersprochen haben. Sie wird in den Kantonen Aargau, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden, Bern, Basel-Stadt und Baselland, Freiburg, Genf, Graubünden, Luzern, Neuenburg, Nidwalden, St. Gallen, Thurgau, Waadt, Wallis, Zürich angewandt. Die Kantone Glarus, Schaffhausen, Solothurn, Schwyz, Zug haben keine entsprechende Gesetzgebung erlassen. Im geplanten Bundesgesetz über die Transplantation ist eine erweiterte Zustimmungslösung vorgesehen: Einem verstorbenen Menschen dürfen dann Organe entnommen werden, wenn er dies vor seinem Tod bestimmt hat oder die nächsten Angehörigen einverstanden sind.

Gesetzliche Grundlagen

In der Schweiz existieren zurzeit keine bundesrechtlichen Vorschriften zur Transplantation von Organen. Hat der Verstorbene nicht angeordnet, was mit seinem Leichnam geschehen soll, entscheiden die Angehörigen. Anstelle der bestehenden kantonalen Gesetze soll 2004 ein nationales Transplantationsgesetz in Kraft treten. Dieses soll den Umgang mit Organen, Geweben und Zellen menschlichen oder tierischen Ursprungs regeln und den Handel verbieten. Weiter soll es Missbräuchen vorbeugen sowie Empfänger und Spender schützen. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates hat den Gesetzesentwurf Ende Oktober 2003 einstimmig verabschiedet. Die Beratung im Nationalrat ist für den 17. Dezember traktandiert.

[@uelle NZZ Online / Inga Struve]
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